Nach alter sowjetischer Tradition gehen am 1. Mai die Arbeiter der lokalen Betriebe (mehr oder weniger freiwillig) auf die Straße um in einer großen Parade durch die Stadt zu ziehen. Aber nicht nur diese.
Die Polizei beäugte misstrauisch die Demonstranten, die in ihren schwarzen Kapuzen und hinter ihren Atemschutzmasken und den mannsgroßen Bannern versteckt einen menschlichen Schutzwall bildeten. Doch man ließ sie ziehen, selbst als die laut ihre Forderungen und Parolen riefen: Gegen Polizeigewalt, gegen Nazis. "Polizei gibt es, aber keine Ordnung!"
Das sei ungewöhnlich, meinte mein guter Freund Dima. Noch vor einigen Jahren hätte die Polizei die Autonomen schon vor der Demo mit Gewalt auseinandergetrieben. Dima selbst war auch einmal mit Freunden zum mitdemonstrieren verabredet gewesen; diese Demo sei dann aber von der Polizei auseinandergesprengt worden - aber er habe an dem Tag glücklicherweise verschlafen, meinte Dima - sonst hätte man ihn womöglich auch verhaftet. Man kennt die Bilder ja aus dem Fernsehen. Warum also lief die Demonstration heute so friedlich ab? War es ein Zeichen, dass Russland demokratischer wird? Dima meinte darauf, dass die Stadt Izhevsk wohl eher ein Ausnahmefall sei.
Aber es ist ein Hoffnungsschein.
Wir haben oft darüber diskutiert, ob in Russland die Veränderung immer von oben diktiert werden musste (von der kommunistischen Revolution bis zur Perestroika), weil in so einem großen Land ein Aufstand von unten kaum zu organisieren sei, und auch die Menschen sich damit abgefunden hatten, unterdrückt zu werden. Aber vielleicht sind wir nun an einem Punkt angekommen, an dem vor allem junge Menschen in ein neues Selbstbewusstsein finden und ihr Land aktiv verändern wollen - und die Regierung einsieht, dass sie diese Entwicklung nicht aufhalten können. Oder es ist bloßes Marketing der Regierung nach dem Motto "Guck mal, Westen!"
Viele wünschen sich währenddessen den Kommunismus zurück. Auf der diesjährigen Parade hatten die Kommunisten die meisten Teilnehmer und sogar eine eigene Marschband organisiert. Sie kritisierten ebenfalls die regierende Partei und forderten die Wiedereinführung sozialer Leistungen aus den Zeiten der Sowjetunion. Dabei schwenken sie die roten Flaggen und stimmten die alten Arbeiterlieder an und riefen "Hurra zum 1. Mai!"
Etwas befremdlich wirkten die Rufe "Lenin - Stalin, hurra!". Der Stalinkult ist ein Phänomen der russischen Provinz. Noch heute stellen sich alte Leute ikonenartig Bilder von Stalin in der Wohnung - und nehmen sie mit auf die Parade zum 1. Mai. Russland ist ein großes Land; es hat sich noch nicht bis überall hin durchgesprochen, dass Stalin ein Massenmörder war.
Meine Freunde und ich liefen aus Spaß bei den Kommunisten mit. Farin hatte aus der Mottenkiste seiner Mutter rote Pioniertücher und -mützen aufgetrieben, in die er sich und mich kleidete. Das kam bei den Altkommunisten sehr gut an. Eine Familie bat uns, dass wir uns zu ihnen stellen mögen - sie wollten ein Familienfoto schießen. Farin musste eine Menge Hände schütteln, und ich bekam fast schon verschwörerisch einen Flyer zugesteckt, der das berühmte Bild Marx, Engels und Lenin zeigte, aber auf diesem Bild war Stalin angefügt.
Russland ist, wie es scheint, doch eine pluralistische Gesellschaft.